BINGER NEBENBAHNEN

"Schockelexpress"



 
Zu Anfang des 20. Jahrhunderts gab es nur zwei Möglichkeiten von Bingen über die Nahe nach Bingerbrück zu kommen: über die feste Eisenbahnbrücke oder mit dem Dampftrajekt, welches gemeinsam von der Hessischen Ludwigsbahn und der preussischen Staatsbahn betrieben wurde.
Dieser Missstand führte zu Verhandlungen zwischen Bingen, Bingerbrück und der Firma Motor (später BBC) über den Bau einer Straßenbahnverbindung zwischen den beiden Städten.
 
Anfang 1903 wurden die Verträge abgeschlossen und im folgenden Jahr die "AG Binger Nebenbahnen" gegründet; die Konzessionserteilung erfolgte im Jahr 1905.
Die Eisenbahnbrücke wurde für die Straßenbahn verbreitert und das Trajekt eingestellt.
Die Bahn blieb jedoch nicht auf den innerstädtischen Verkehr beschränkt: Sie führte in einer Zweiglinie bis Dietersheim (Eröffnung: 2. November 1907).
Die Streckenlänge der normalspurigen Bahn betrug somit fast 7 Kilometer.
 

Güterlok 12, genannt "Laubfrosch"

Aufgrund der starken Verkehrseinbußen in der Nachkriegszeit wurde der Abschnitt Bingen - Bingerbrück 1922 stillgelegt (die Gleise blieben zunächst jedoch liegen, da man auf eine Wiederaufnahme, und sogar eine Verlängerung der Streckenführung bis nach Langenlonsheim hoffte).
Im Jahr 1941 wurde die Bahn den Binger Stadtwerken angegliedert. In den nachfolgenden Jahren war das Verkehrsaufkommen mit bis zu 2 Millionen beförderter Personen p.a. am höchsten.
Durch den rasant anwachsenden Individualverkehr kam es jedoch bald zu Konflikten: Die Straßenbahn wurde von den Autofahrern als Verkehrshindernis betrachtet.
Am 22.10.1955 kam für die Bahn das Aus: Der Personenverkehr wurde auf Omnibusse umgestellt; der Güterverkehr (hauptsächlich Kesselwagen für die Weinbrennerei Scharlachberg und die Spirituosenfabrik Racke) konnte noch zwei Jahre aufrechterhalten werden.
Am Tag der Stilllegung erschien in der Allgemeinen Zeitung ein Abschiedsgedicht (J. A. Smitt-Krämer):

's werd langsam Herbscht, die Blätter falle
die Dag schun werre aach jetzt korz.
De Mensch uff seinem Erdenwalle,
denkt: Kohle, daß gibt Kassestorz!
Verschwunn sinn ball die letschte Bliete,
de Newwel steiht, de Newwel fällt.
Leeht gere schwer sich uff's Gemiete,
was is so buckelig die Welt.
 
Dass iss die Zeit, wo mir aastimme,
verschnuppt, verkält, frooht nor nit wie
unn wiedig drum, voll hartem Grimme,
dass Klagelied - die Elegie!
Ne Elegie nit zu bestreite,
mir hawwe manchen Grund dezu,
es lischt sich länger nit vermeide
dass die "Elektrisch" geht in "Ruh".
 
Mir wisse all, es werd ääm sauer,
wann treilich was gedient lang hodd,
mer iss erfillt von schwazze Trauer,
weil halt die Tram iss nit mer flott,
's war leider nit mehr viel zu hoffe,
die Bolidur iss ab, kää Schmiss
wass dorch die Strosseeng geloffe,
war vum Verkehr nor Hinnerniss.
 
's war anno Sechs! Juscht finf Jahrzehnte,
dass Binge elektrifiziert.
Wass da for Freidelieder teente,
wass da hodd alles juweliert:
Kää Wunner, endlich konnt in Schare,
de Mensch zum Woi noch Biddesum,
in aller Ruh gemiedlich fahre,
unn owends aagenehm dann um.
 
Dorch all die Zeit tat sich bewähre,
in beschter Weis die Nebenbaah,
nor mit de Zunahme vom Verkehre,
hodd sich gezeigt des Tiegers Zaah.
Nooh'm Plan fuhr se - wann aach nit leise,
ausweiche, davun war kää Red',
weil se nit fort konnt von der Gleise,
es fehlte die Moderniteet.
 
Jetzt stehn mir da, mit Trauermiene,
wass is vergänglich doch die Welt!
Lebet wohl, ihr uns so deire Schiene.
heid werd sich's letschtemol geschellt.
O Newebaah, mir dransbordiere,
dich ins Museum, 's iss vorbei,
ää Waah de Kinnerspielplatz ziere -
unn jetz - die Omnibus ebei!

 
Literaturhinweise
Bucher, Heinz 80 Jahre Binger Nahverkehr - Von der Binger Nebenbahn zum modernen Verkehrsbetrieb, Bingen 1985
Lautensack, Karl-Heinz 100 Jahre Binger Verkehrsbetriebe - von der Elektrisch zum RNN, Weiler bei Bingen, 2005
Wolff, Gerd Deutsche Klein- und Privatbahnen. Band 1: Rheinland-Pfalz / Saarland; Freiburg 1989