AMICHE

Vom Dampfross zum Drahtesel


Bahnhof Gau-Odernheim, 1897
 
Nette und hilfsbereite Menschen findet man in Rheinhessen eigentlich überall. Die Annemarie zum Beispiel: Bevor sie mit dem Zug fuhr, fragte sie in der ganzen Nachbarschaft herum, ob vielleicht irgendjemand was aus der Stadt brauche.
Und wie das im Leben halt so ist, wird Hilfsbereitschaft ziemlich schnell ausgenutzt: Die Annemarie, die von allen nur "Amiche" genannt wurde, hatte bald einen Fulltimejob als Spediteurin und besorgte den lieben Nachbarn die gewünschten Waren.
Irgendwie hatte man das Gefühl, dass "Amiche" in jedem Zug sitzt, der vorbeikommt; die Bahnlinie wurde konsequenterweise von der Bevölkerung auf den Namen "Amiche" getauft...

(Sollte diese Geschichte nicht war sein, so ist sie doch schön erfunden - einige meinen nämlich, dass der Name "Amiche" von französichen "Ami" (Freund) komme oder gar von einem Lokführer namens Armin...)

Bahnhof Gau-Odernheim, 1904
 
Nach dem Bau der Hauptstrecken wurde auch in vielen Ortschaften der Provinz Rheinhessen der Wunsch einen eigenen Bahnanschluss zu erhalten größer.
In den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts wuchs der Unmut - wurde doch die letzte staatliche Eisenbahnlinie in Rheinhessen bereits 1873 eröfnet.
Für die Erschliessung des Landesinneren gab es mehrere unterschiedliche Projekte: Die zunächst favorisierte Linienführung von Worms nach Nieder-Olm scheiterte am Widerstand der Stadt Mainz und dem Desinteresse einiger Ortschaften.
 
Einigen konnte man sich jedoch über eine Linienführung von Bodenheim über Gau-Odernheim nach Alzey.
 

Bahnhof Mommenheim
 
Die im September 1894 begonnenen Bauarbeiten konnten bereits zwei Jahre später beendet werden: Am 28. September 1896 erfolgte die feierliche Eröffnung. Zwei Tage später wurde der reguläre Betrieb aufgenommen.
 
Vier dreiachsige Tenderlokomotiven (Henschel und Sohn, Kassel) zogen damals zwölf Personen- zwei Post-und Gepäckwagen (Gebr.Gastell, Mainz-Mombach) sowie dreissig Güterwagen (Talbot, Aachen) über die Strecke.
Am Anfang verkehrten auf der Gesamtstrecke täglich fünf Personenzüge in beiden Richtungen sowie ein Frühzug von Undenheim/Köngernheim nach Alzey. Später gab es auch durchgehende Zugverbindungen von Alzey nach Mainz.
 

Bahnhof Bechtolsheim
 
Heute sind die Gleise demontiert und der nördliche Teil der Strecke ist zu einem Fahrradweg ausgebaut.
Am 12. Dezember 2003 wurde mit dem ersten Spatenstich zur Gau-Odernheimer Ortsentlastungsstraße auch das Schicksal des südlichen Teils vom "Amiche" besiegelt: Die Straße führt nämlich über die Trasse der ehemaligen Bahnlinie.

Dennoch gibt es Initiativen, die den Bau einer Überlandstraßenbahn durch Rheinhessen entlang der alten Eisenbahnstrecke forden.
 
Der Fahhradweg erhielt übrigens - ebenso wie vorher die Eisenbahnstrecke - den Namen "Amiche".
 

Der wahrscheinlich allerletzte Versuch, das allerletzte Reststück vom "Amiche" zu befahren, endete am 3. Oktober 2004 kurz vor dem Bahnhof Buschheim-Gestrüppheim direkt unter der Alzeyer Autobahnbrücke
 

Literaturhinweise
Hinkel, Manfred Vom glanzvollen Anfang bis zum traurigen Ende 1896-1985 - Dokumente aus 89 "Lebensjahren" der Nebenbahn Bodenheim-Alzey, Alzey 1985
Hinkel, Manfred und Fillinger, Gerhard Die Nebenbahn Bodenheim-Alzey, Erfurt 2006
Lehmann, Karl Ludwig "Amiche" wird 100 Jahre alt: Erinnerungen an eine Nebenbahn in Rheinhessen. - Ill. In: Deutsche Gesellschaft für Eisenbahngeschichte: DGEG-Nachrichten. - Nr.133 (1996), Sept./Okt., S. 18-19
Lubojanski, Gerhard Das "Amiche" - die ehemalige Eisenbahnstrecke von Bodenheim nach Alzey. - Ill., Kt. In: Mainz-Bingen: Heimat-Jahrbuch. - 42 (1998), S. 134-137