MAINZ - ALZEY

Vor Jahr und Tag



 
"Eines Tages gaben sich der Ingenieur Kamper und der Ingenieur, der von der Pfalz aus die Strecke ins Mainzerland hereinführte auf der Brücke des Viaduktes der Eulenmühle die Hände. Die beiden Wege waren vereinigt, der von der Pfalz ins Mainzerland, und der vom Mainzerland in die Pfalz. Unterm Viadukt war ein Fass Bier angestochen und die beiden Arbeitergruppen feierten das vollendete Werk.
Andern Tags kam der Oberingenieur aus Mainz und nahm die Strecke ab. Dann sauste eines weiteren Tags eine Lokomotive durchs Land - den einen zum Schrecken, den anderen zur Verwunderung - unaufhaltsam, so dass niemand sich das Ungetüm so recht angucken konnte.
Alle Bahngebäude waren bekränzt und beflaggt - viele Häuser der anliegenden Dörfer hatten Fahnenschmuck angelegt.
Die Arbeit ruhte. Von den benachbarten Dörfern kamen die Leute nach den Stationen, sich das neue Schauspiel anzusehen. Der erste Bahnzug sollte heute das Land durchqueren - die einen sahen ihm mit freundlichen Gefühlen entgegen, die anderen wünschten ihm alles Unglück - und andere prophezeiten alles Unheil, eine Umkehrung der Verhältnisse für das Land.
Plötzlich gab's einen dumpfen rollenden Ton - fern und gedämpft, ohne dass etwas zu sehen gewesen wäre - dann ein Pfiff, der seltsam übers Tal hinrollte und hart in den Ohren gellte - der Zug wendete und bog über den hohen Damm. Alle schrien auf. Wie er die Biegung machte, schien's, er schwanke und müsse die steile, hohe Böschung hinunterstürzen. Aber er fuhr den Bogen schön aus - die Fenster klirrten und der Boden zitterte, die Maschine fauchte - weißer, fetter Rauch zog übers Land hin - und die Räder ratterten - dann sah man die letzten Wagen zwischen den ausgetragenen Böschungen verschwinden."

Wilhelm Holzamer, Vor Jahr und Tag
Über den Bau einer Eisenbahnstrecke von Mainz nach Alzey, der hier vom Nieder-Olmer Heimatschriftsteller Wilhelm Holzamer beschrieben wird, hat man sich schon in den fünfziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts Gedanken gemacht.
Zunächst war eine Trassenführung über Bodenheim, Hahnheim, Bechtolsheim, Albig - ähnlich dem späteren "Amichen" - geplant; doch befürchtete man, dass wegen der Nähe zur bestehenden Linie Mainz - Worms, diese darunter leiden konnte. Also entschied man sich für eine Strecke über Nieder-Olm und Wörrstadt; obwohl hierfür aufwändige Geländearbeiten nötig waren.
Der Tunnelbau bei Klein-Winternheim wird von Wilhelm Holzamer geschildert:
 
"Die gewöhnlichen Erdarbeiten konnten ja auch die Einheimischen machen, aber für den Tunneldurchstich zwischen Marienborn und Klein-Winternheim hatte man die Fremden doch nötig. Und dann verstanden sie ausgezeichnet den Ausbau des Tunnels selbst, der Brücken und Viadukte mit den behauenen roten Flonheimer Steinen, die aus den eigenen Brüchen der Hessischen-Ludwigsbahn-Gesellschaft kamen.
Nun ja, und es war ein Schaustück. Es wurde nur von einer Seite aus gegraben, von der Marienborner, und sie waren schon über die Hälfte. wenn sie nur durch wären! Eines Tages war der ganze Verwaltungsrat aus Mainz da - der Durchstich sollte vollendet werden.
Nicht einmal mannshoch war das Loch erst, es war Vorsicht geboten, dass nicht ein Nachrutsch eintrat. Eine Szene hatte es gegeben. Der Direktor der Ludwigsbahn-Gesellschaft hatte als erster durchgehen wollen. Der Ingenieur hatte es nicht gestattet, er trat als erster aus der Öffnung heraus, und ihm nach kam der Arbeiter, der den letzten Bickelhieb getan hatte."
Ausser diesem Tunnel gab es noch weitere Kunstbauten entlang der Strecke, wie z.B. den Damm bei Nieder-Olm, welcher nur schwer zu befestigen war.
 

Bahnhof Nieder-Saulheim
 
Am Tage der beschriebene feierliche Eröffnung, dem 18. Dezember 1871, erklang dann auch zum letzen mal das Horn der Postkutsche derer von Thurn und Taxis - ab jetzt wurde die Post zwischen Mainz und Alzey mit dem Zug befördert.
 
Am 21. Dezember 1871 berichtet auch der "Mainzer Anzeiger" über die neue Bahnlinie:
"Die Probefahrt auf der Bahn Alzey-Mainz, am Sonntag, machte auch eine Anzahl junger Leute aus Armsheim mit, die aber über den Verlauf sehr unzufrieden sind. Auf jener Station eingeladen, die noch freien Wagen zu benutzen und die Fahrt mitzumachen, ließen sie sich nicht zweimal bitten, zumal ihnen die Rückfahrt ebenfalls verheißen wird. Auf der Hinfahrt war selbst der Packwagen besetzt, auf der Rückfahrt hätten die Personenwagen vollständig Platz geboten, da Mainzer Herren zurückgelieben, allein ein Theil des Dienstpersonals war weniger freundlich, er zwang zur Platznahme im Gepäckwagen, und nicht allein dies, er nahm auch 24 kr. per Person in Anspruch und drohte bei Nichtzahlung mit Aussetzung an der nächsten Station."
 
Literaturhinweise
Holzamer, Wilhelm Vor Jahr und Tag, Mainz 1997 (Erstauflage: Berlin 1908)
Weisrock, Peter "Fenster klirrten und der Boden zitterte": 120 Jahre Eisenbahnstrecke Mainz - Alzey. - Ill. In:Lokalanzeiger für die Verbandsgemeinde Nieder-Olm. - 15 (1991), 50, S. 1